Irgendwann im April war ich mit mir selber nicht mehr im Reinen. Hinzu sind körperliche Zipperlein gekommen. Ein Zeichen? Ein Zeichen dafür, dass jetzt hier an dieser Stelle erstmal Schluss ist? Möglich, wer weiß das schon. Auf jeden Fall habe ich für mich entschieden, irgendetwas für mich zu tun. Für mich ganz allein. Ohne mich nach anderen zu richten. Ohne die Bedürfnisse anderer zu erfüllen. Ich wollte etwas Besonderes tun.
Da habe ich an die Worte meiner Großmutter gedacht. Die hat mir vor vielen Jahren einmal gesagt – als ich mental in einer nicht so guten Phase war – „Mensch Junge, geh doch mal pilgern!“ Vor ihrem Haus im Eichsfeld verlief der Jakobsweg. Den ist sie immer gegangen. Mal nach Göttingen, oder mal Richtung Eisenach. Als Katholikin war das für sie Standardprogramm, schon als Mädchen.
“Okay“, dachte ich mir, „vielleicht ist Pilgern etwas für mich.“ Ich wandere gerne und unsportlich bin ich auch nicht gerade. Religiös bin ich zwar nicht, aber doch schon ein wenig spirituell. Aber nach Eisenach oder Göttingen? Naja, da hatte ich dann doch nicht so Lust drauf.

Dann doch klassisch. Spanien. Jakobsweg. Oder wie man sagt Camino. Camino ist spanisch und bedeutet Weg. Also mal gegoogelt. Und ach, da gibt es ja etliche Caminos. Camino Portugues, Camino Primitivo, Camino del Norte. Ich habe mich dann für den klassischen Weg entschieden. Den Camino Frances. Von der französisch-spanischen Grenze nach Santiago del Compostela. Länge des Weges lockere 890 Kilometer.

Von der Zeit her schwierig. Also habe ich mich dafür entschieden, 460 Kilometer des Weges zu gehen. Habe ja auch keine Erfahrung. Wie mein Körper darauf reagiert, weiß ich auch nicht. Für mich war die Strecke von kurz nach Burgos bis nach Santiago ausreichend. 20 Tage Zeit hatte ich dafür. Das macht 25 Kilometer pro Tag.

Gesagt getan. Flug nach Madrid gebucht. Zugticket von Madrid nach Burgos gebucht. Vier Wochen später ging es los. Nur ich und ein Rucksack mit 7 Kilogramm Gepäck. Nicht mehr, nicht weniger. Minimalismus. Das ist entscheidend, denn der Rucksack muss getragen werden und nach jedem Kilometer wird das Päckchen schwerer. Eben wie im wahren Leben, in dem jeder sein Päckchen tragen muss.

Nach 15 Stunden bin ich dann in Burgos angekommen. Eine Herberge gesucht. Diese Art der Unterkunft würde ich jetzt die nächsten Wochen beanspruchen. Es gibt staatliche und private Herbergen. Die Kosten für die Übernachtung schwanken zwischen kostenfrei und bis zu 15 Euro pro Nacht. Je nach Ausstattung. Okay, Luxus ist was anderes. Schlafsäle für bis zu 25 Personen. Gemeinschaftsdusche und Gemeinschaftsräume. Aber es ist spannend. Viele Menschen aus allen Nationen leben dort zusammen –wenn auch nur für eine Nacht. Spanier, Franzosen, Polen, Australier, Kanadier, Amerikaner, Deutsche … die Welt trifft sich auf dem Camino. Jeder aus seinem Grund. Und da gibt es eine Vielzahl. Meist sind die Gründe religiöser, spiritueller oder sportlicher Natur. Manch einer pilgert auch nur, weil es eine ganz besondere Art des Urlaubs ist. Und am Abend wird gemeinsam gegessen. Pilgermenü. Drei Gänge. Ganz einfach.

Also gestartet von Burgos. Noch voller Euphorie und Tatendrang. Durch die Meseta von Kastilien und Leon. 30 bis 36 Grad. Hitze, Staub und jeden Tag 25 bis 30 Kilometer. Die Landschaft verändert sich täglich. Man trifft jeden Tag neue Menschen. Man trifft sich auch immer wieder. Man geht ein Stück zusammen und dann geht wieder jeder alleine. Manchmal trifft man sich auch ein paar Tage später. Oder dann in Santiago, dort treffen sich alle wieder. So wie im wahren Leben.

Der Weg ist geprägt von seiner Geschichte. Kirchen, Kapellen, Kathedralen oder einfach nur wunderschöne Dörfer mit ihren alten Hospitälern und Klöstern. Stille, Ruhe, morgendliches Zwitschern der Vögel. Man geht schneller und man geht langsam. Der Körper sagt dir, wenn das Tempo anzupassen ist. Überhört man diese Signale, dann kann der Weg schnell zu Ende sein.

Und so geht man. Leon, Astorga, Ponferrada. Und plötzlich überwindet man Gebirgszüge und kommt nach Galizien. Portomarin, Sarria, Melide. Wetterwechsel. 11 Grad und Regen. Der Körper muss sich umstellen und das fällt ihm schwer. Er ist sowieso schon am Limit. Die Kräfte neigen sich dem Ende zu. Die Ruhepausen reichen nicht immer, um wieder voll zu regenerieren. Aber der Weg entschädigt für die Entbehrungen. Die Landschaft ist wahnsinnig schön. Bergketten, an denen sich die Wolken reißen. Wälder mit riesigen Farnen. Moosbedeckte Böden.

Naja und irgendwann kommt man dann nach Santiago. Dort treffen sich dann alle wieder. Es ist das Ziel des Weges. Einige gehen weiter bis nach Fisterra am Atlantik. Früher das Ende der Welt.
Es ist schwer, darüber zu sprechen, was der Weg einem gibt oder was er macht. Man sagt, der Weg gibt dir nicht das, was du willst, sondern das, was du brauchst. Und ich kann sagen, dass er das definitiv tut. Die Erfahrungen sind unbezahlbar. Entscheidend ist jedoch, was man dann mit diesem Erfahrungen macht. Schauen wir mal.
Text und Fotos: Andreas Frank