Wer anders als Michael Nitschke kann zu einem alten Foto ganze Geschichten erzählen? Hier gibt uns der Betriebsleiter der EVAG einen Einblick in die Zeit und Fahrzeuge der Verkehrsbetriebe um 1990, die durch Erfurt fuhren. Wie immer verblüfft er mit erstaunlichem Detailwissen.Ein Zeitsprung in das Jahr 1991: Auf dem Betriebshof Magdeburger Allee stehen 2 Tatra-Wagen des letzten nach Erfurt gelieferten Fahrzeugloses. Die 1990 gelieferten Wagen 536 bis 555 waren 1988 bestellt oder besser zugeteilt worden, als der Untergang der DDR noch unvorstellbar erschien. Eigentlich sollten die Wagen schon 1989 geliefert werden, denn in Erfurt herrschte, wie in anderen DDR-Straßenbahnbetrieben auch, eklatanter Fahrzeugmangel. Lieferverzögerungen waren aber zu der Zeit nicht ungewöhnlich und hatten verschiedene Ursachen, die Volkswirtschaft unseres Nachbarlandes lief etwas anders als die der DDR, aber sicher nicht besser. Noch Anfang 1990 liefen in Prag Verhandlungen, die Fahrzeuglieferungen zu stornieren, denn zu der Zeit waren rasante Veränderungen im Nutzungsverhalten der öffentlichen Verkehrsmittel unübersehbar. Davon abgesehen erschien zeitgemäßere Fahrzeugtechnik erreichbar, und sei es nur stromsparende Choppertechnik, mit der Tatra-Wagen bislang aber nur nach Berlin geliefert worden waren.
Nun – die Prager entließen uns nicht aus unserem Vertrag. Wir konnten nur neues Sitzgestühl, erstmals Haltestellenansagegeräte und eine neue Lackierung durchsetzen. Und da man zu dieser Zeit noch keine künstlerische Beratung durch Designer für entsprechenden Obolus brauchte, reichte ein Anruf nach Freiburg im Breisgau, deren Fahrzeug-Gestaltung uns gefiel, um Urheberrechte (macht einfach…) und RAL-Nummern zu klären. Aber wir hatten ja auch keine Zeit, die Fahrzeuge waren in der Fertigung. Mit dem Sitzgestühl hielt übrigens standardmäßig die 3. Sitzreihe in den Tatras Einzug, zuvor hatten das nur 4 eigentlich für Gotha bzw. Frankfurt/Oder vorgesehene Wagen. Und die Sitze waren gepolstert, der wenig Freude bereitende grün gestreifte Stoff war allerdings nicht sehr widerstandsfähig. Von den gelieferten 20 Wagen wurden übrigens 7 Wagen nach Cottbus weitergegeben, ohne in Erfurt eingesetzt gewesen zu sein, und deswegen hat Cottbus heute eine Fahrzeuggestaltung wie Erfurt…
Noch ein Blick nach links: Wir erblicken das Heck eines MAN-Gelenkbusses in der Lackierung der Mainzer Stadtwerke. 6 dieser Fahrzeuge hatte uns unser Partnerbetrieb 1990/91 als Erste Hilfe geschenkt. Der Zustand einiger Ikarusgelenkzüge war bedenklich, wir konnten die Fahrzeuge daher gut gebrauchen. Die zwischen 1977 und 1979 gebauten Fahrzeuge vertrugen allerdings unsere Straßen nur schlecht. Bereits nach kurzer Zeit kam es zu Rahmenbrüchen, die sich nur kompliziert schweißen ließen. Das lag daran, dass die Rahmen gegen Korrosion ausgeschäumt waren und beim Schweißen giftige Dämpfe frei setzten. Als Reaktion darauf wurden die Wagen 401-406 möglichst auf Linien mit etwas besseren Straßen eingesetzt, um die Rahmenbrüche zu minimieren. In Anbetracht des Alters der Wagen lohnten große Instandsetzungsarbeiten (Motoren, Achsen, Getriebe und natürlich der Aufbau) aber nicht mehr, obwohl der Fahrzeughersteller noch die volle Ersatzteilversorgung sicherte. Und so kam das Einsatzende ab Ende 1992 und ein Jahr später war kein SG 192 mehr in EVAG-Diensten. Als 1994 dann die ersten 7 Niederflurgelenkbusse geliefert wurden, begann die Nummerierung wieder bei 401.
Text: Michael Nitschke, Betriebsleiter der EVAG
Foto: Bernd Stützer
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