Mal ehrlich, am Ende bleibt doch jeder für sich. Rolli-Fahrer werden schüchtern beäugt, aber in den seltensten Fällen angesprochen. Zu groß sind die Berührungsängste. Das muss anders werden, dachte sich das Team der RSB Thuringia Bulls. Die Rollstuhlbasketballer des Vereins spielen auf Weltniveau. Jetzt greifen sie auch in Thüringer Schulen an. Inklusion zum Anfassen ist das Thema – ein Projekt, das die Stadtwerke Erfurt 2019 im Rahmen der Förderung 21×1000 unterstützt haben.

Andre Bienek nimmt kein Blatt vor den Mund. „Ich kann zwar laufen, sieht aber blöd aus.“ Der Basketballer sitzt im Rollstuhl, er hat Spina bifida, eine sehr seltene angeborene Fehlbildung der Wirbelsäule. Ganz entspannt stellt er sein Team vor. Auch Sven Baum gehört dazu. Der 39-Jährige ist amtierender deutscher Meister in Para-Karate. Er betreut heute den Alltagsparcours. Einen ganzen Tag lang geht es
in der Regelschule Geraaue um das Leben im Rollstuhl.

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Andre Bienek nimmt kein Blatt vor den Mund. Der Rollstuhlbasketballer nimmt die Kids ordentlich ran.

Jeweils anderthalb Stunden probieren die Kids der 5. bis 10. Klassen es aus. Die Idee, die Bulls in die Geraaue zu holen, hatte Cornelia Schneider. Die Lehrerin für Deutsch und
Englisch trainiert regelmäßig im Fitness-Studio des Reha-Sport-Bildung e. V. Elxleben, der Heimstatt des hochkarätigen Sportvereins. Währenddessen treibt Sven Baum die Schüler an. „Ihr müsst den Rollstuhl kippen können, auf zwei Rädern fahren“, sagt er.

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Sven Baum, amtierender deutscher Meister in Para-Karate, hilft beim Alltagsparcours.

„Wieso das denn?“, fragt ein vorwitziger Siebtklässler. „Weil du sonst erschossen bist“, meint Sven Baum und führt es vor. Mit Leichtigkeit fährt er über Rampen, Erhöhungen, Unebenheiten. Es sind die kleinen Stolperfallen, die Rolli-Fahrern das Leben schwer
machen: Kopfsteinpflaster, kleine Treppen, Baustellenkabel. Dinge, an die man, wenn man gut zu Fuß ist, keinen Gedanken verschwenden würde.

Und schon geht’s los. In Zweiergruppen nehmen die Schüler die Rollstühle in Besitz.
Einer fährt, der andere ist zur Hilfestellung da. „Ich will keinen sehen, der sich hier gemütlich durch die Gegend fahren lässt“, so die Ansage von Sven Baum.

„Auf zwei Rädern fahren ist nicht leicht. Es ist irre schwer, das Gleichgewicht zu halten“, meint Emily, die schon nach den ersten Versuchen umkippt. Leon und Noah ergeht es
nicht viel besser. Ein Seil, das ein Kabel simulieren soll, wird zum unüberwindbaren Hindernis. Ganz schwierig: die Buckelpiste mit Löchern und Erhebungen aus Holzstücken.

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Der Alltagsparcours ist ganz schön schwierig.
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Die kleinsten Hürden werden im Nu zu großen Stolperfallen.

„Ja, die haben wir extra für euch gebaut“, meint Andre Bienek grinsend. Er kennt keine Gnade. Ganz schnell kommt die Truppe ins Schwitzen und dabei hat noch gar keiner richtig gespielt. Denn neben der Alltagsstrecke stehen heute auch noch Rollstuhlbasketball und -rugby an. Dafür haben die RSB Thuringia Bulls drei
verschiedene Rollstuhlarten mitgebracht. Die Sportstühle sind stabiler, man sitzt tiefer, hat ein besseres Gleichgewicht.

Berührungsängste abbauen

Das fällt den Schülern gleich auf. Die Rugbystühle sorgen für großes Staunen. Sie sind besonders robust und sogar mit Eisen verstärkt. „Hier ist Rammen angesagt. Erlaubt
ist fast alles. Das macht den Kids den meisten Spaß“, sagt Marcel Schmidt. Er ist seit 2011 im Verein, spielt selbst Rugby. „Das ist eigentlich ein Sport für die richtig Behinderten. Dafür muss man mindestens an drei Gliedmaßen eingeschränkt sein“, sagt er augenzwinkernd.

Bei ihm machen nicht nur die Beine nicht mit, auch die Hände kann er nicht richtig bewegen. Erfunden wurde die Sportart in den späten 1970er-Jahren in Kanada. Heute wird sie auf der ganzen Welt gespielt, ist eine paralympische Spielart.

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Rollstuhlrugby macht am meisten Spaß, finden die Kids.

Währenddessen jagen die Basketballer Roman Wenzel und Justus Heinrich die Kids übers Basketballfeld, die sich abmühen, den Ball vom Rollstuhl aus in den Korb zu kriegen. Beide spielen in der Nachwuchsmannschaft.

Andre Bienek ist bei den ganz Großen dabei. Ursprünglich kommt er aus dem Ruhrpott. „Ich hatte immer eine Sonderrolle im Sport, das war echt doof, Schiedsrichter oder so. Nie konnte ich selber Fußball spielen“, erzählt er. Erst später hat er Sitzvolleyball für sich entdeckt. Da war er 12. Später wechselte er zum Rollstuhlbasketball. Seit 2007 ist er Nationalspieler.
Nächstes Jahr ist er bei den Paralympics in Tokio dabei. Bei allem Erfolg und großer Klappe bleibt er dennoch bescheiden.

„Wir wollen nicht nur an der Spitze mitkämpfen, sondern auch für ein gemeinsames Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung sorgen. Inklusion geht alle an.
Dafür müssen wir aufeinander zugehen, Berührungsängste abbauen. Wie ginge das besser als spielerisch?“, sagt er.

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Stephanie Robus von der Unfallkasse Thüringen im Gespräch mit Andre Bienek.

Partner der Thuringia Bulls School Tour ist die Unfallkasse Thüringen. Auch heute ist Stephanie Robus wieder mit dabei, macht Fotos, unterhält sich mit Schülern und den
Spielern des RSB. „Pro Schuljahr bieten wir in ganz Thüringen gemeinsam zehn Aktionstage an, unterstützen mit Informationsmaterial, helfen bei offenen Fragen“, sagt sie.

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Starkes Team: Marcel Schmidt, Roman Wenzel, Justus Heinrich, Stephanie Robus von der Unfallkasse Thüringen, Andre Bienek und Sven Baum (v. l.).

Jetzt bewerben

Auch 2020 fördern die Stadtwerke Erfurt 21 tolle Ideen aus Bildung, Kultur, Sport, Sozialem und Vorhaben rund um die Bundesgartenschau 2021, die Erfurt noch schöner machen. Bis 31. Dezember 2019 können sich Vereine, Schulen, Kindergärten mit ihrem Projekt bewerben. Mehr dazu unter www.stadtwerke-erfurt.de/21×1000.

Fotos: Steve Bauerschmidt