„Hier, wo wir jetzt stehen, eigentlich im Herzen der Stadt, befand sich im Mittelalter das jüdische Quartier“, sagt Sabine Hahnel und dreht sich einmal im Kreis. Sie ist eine von vielen Stadtführerinnen, die Touristen im Auftrag der Erfurt Tourismus und Marketing GmbH durch Erfurt führen. Auf dem Benediktsplatz treffen wir uns zu einer besonderen Reise in die Vergangenheit. Eine Reise durch die Zeit im besonderen Sinne, denn so, wie wir heute laufen, gibt es die Stadtführung eigentlich nicht. Extra für uns hat Sabine Hahnel sie zusammengestellt, wir wandeln quasi auf den Spuren jüdischen Lebens in Erfurt.
Die 45-Jährige ist seit über 20 Jahren Stadtführerin aus Leidenschaft und kann sich nichts anderes vorstellen. Wie sie dazu kam? Sabine Hahnel lacht. „Ich hatte zu Abizeiten eine wahnsinnig gute Geschichtslehrerin, die Geschichte mit Geschichten erzählen konnte und uns nicht ausschließlich auf Jahreszahlen getrimmt hat. Da war ich quasi ‚angefixt‘ und konnte gar nicht anders, als Geschichte zu studieren“, sagt sie, zückt ihren Regenschirm und führt uns durch die engen mittelalterlichen Schlippen zur Mikwe, dem mittelalterlichen Ritualbad der Stadt hinter der Krämerbrücke. Sie liegt mitten im jüdischen Quartier, hier wohnten die ärmeren Leute.

„Hinter der Furt, also östlich der Gera, war alles christlich“, sagt sie. Bis dicht an die Gera waren die ärmlichen Häuser gebaut, so ähnlich wie die Bursen, die sich nur wenige Schritte entfernt befinden. Bei Bauarbeiten wurde die Mikwe 2007 entdeckt. Wie so oft war es ein Zufall, eine Stützmauer brach ein: Zum Vorschein kam ein alter Keller. „Ein bedeutender Fund, denn das jüdische Ritualbad war noch viel wichtiger als die Synagoge.
Man nannte es auch das kalte Bad, denn es wurde direkt aus der Gera gespeist. Der mittelalterliche Bau war gut durchdacht“, erzählt sie. Kiesel und Steine wirkten wie Filter auf das Wasser, das durch die Fugen ins Tauchbecken floss. Dadurch war es sehr sauber, aber auch sehr kalt. Nackt und einzeln ging es ins Wasser. „Vor allem für die Frauen war die rituelle Reinigung elementar, um sich von Körperflüssigkeiten zu reinigen, besonders an den weißen Tagen fünf oder sechs Tage nach der Menstruation“, so Sabine Hahnel. Aber auch wenn Tote berührt wurden oder nach der Hilfe bei Geburten stiegen Hebammen und Ärzte nach getaner Arbeit ins Wasser. Dreimal tauchten sie tief ein, Augen und Mund offen, sprachen Gebete.
Aber auch ihr Geschirr nahmen die Frauen mit zur Mikwe und tauchten es vor der ersten Benutzung ins rituelle Bad ein.
Sicher sorgte auch der eine oder andere Mann für Aufsehen, wenn er – scheinbar ohne Grund – ins kalte Bad ging. Denn auch den Ehebruch konnte man so abwaschen, erzählt sie.
Auffällig sind die großen Sandsteinquader, die in der Mikwe verbaut sind. Sie stammen wohl vom Vorgängerbau, mutmaßt Sabine Hahnel und lenkt unseren Blick auf einen Stein direkt neben den Stufen, die ins Wasser führten. Ein kleines Köpfchen mit Lilienkrone, das bis zum Winter 2010, als man den Schutzbau für die Mikwe errichtete, unter einer dicken Mörtelschicht versteckt war – aus dem 12. Jh. und ganz und gar untypisch für jüdische Darstellungen und wohl eher christlicher Natur. Die Wasserversorgung funktioniert übrigens noch immer, nur ist der Wasserstand heute niedriger. Das liegt wohl am Flutgraben, der Ende des 19. Jh. errichtet wurde und für einen niedrigeren Wasserstand in der gesamten Innenstadt sorgte.


In der Michaelisstraße macht uns Sabine Hahnel auf die großzügig geschnittenen Grundstücke aufmerksam. Hier wohnten sich im 14. Jahrhundert Juden und Christen gegenüber, auch die wohlhabenderen jüdischen Fernhändler, denn in unmittelbarer Nähe lag der Benediktsplatz, an dem sich die Via Regia und die Nürnberger Geleitstraße kreuzten. Auch Kalman von Wiehe wohnte in der Michaelisstraße, ebenso wie Abraham von Blankenhain. In den kleinen, der Gera zugewandten Gassen hingegen hausten die Ärmeren in windschiefen Hütten.
Vorbei geht es an der Großen Alten Waage, es ist die Nr. 7 in der Michaelisstraße. Auch hierzu hat Sabine Hahnel eine Geschichte parat. Das ganze Areal gehörte einst Abraham von Rotenburg, einem jüdischen Kaufmann, der das Haus gemeinsam mit der Nr. 6 errichten ließ. „Es war einer der größten und ältesten jüdischen Besitze vor der Judenverfolgung im 13. Jahrhundert“, so Sabine Hahnel. 1349 – während des Pogroms – fiel es dem Brand zum Opfer, wurde später aber wieder aufgebaut, da die Stadt die Waage aus dem Rathaus dorthin verlegen wollte. Bis 1712 wurden die Häuser als Waage und Kaufhaus genutzt.

Viele der ehemals jüdischen Wohnhäuser in unmittelbarer Umgebung wurden damals zu Stapelspeichern umgebaut, auch in der Waagegasse – ein Schicksal, das auch die Alte Synagoge teilte. Die übrigens war nicht der Zufallsfund, wie gern dargestellt, erzählt Sabine Hahnel. Ende der 1980er-Jahre, als das politische Klima milder wurde, tauchten in der ganzen DDR plötzlich Befunde jüdischen Ursprungs auf. Die hatte man sicher schon lange in der Schublade, um sie im passenden Moment hervorzuzaubern, ist sich Sabine Hahnel ziemlich sicher.

Dass die Synagoge sich zu Teilen in der „Feuerkugel“ befand, wurde schon lange vermutet, erzählt Sabine Hahnel und berichtet von Rosita Peterseim, einer Denkmalpflegerin und Kunsthistorikerin, die es genau wissen wollte und sich 1988 auf die Personaltoiletten des Restaurants schlich, den Putz abkratzte und mittelalterliches Mauerwerk entdeckte. Mit Seilen haben sich 1993 Kletterer aus Marburg abgeseilt, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Von außen sah man aufgrund der engen Bebauung ja nur die Spitze des Dachs.
Erst, als die Stadt das Grundstück 1998 zurückkaufte, konnte man der Sache richtig auf den Grund gehen und fand Erfurts großartige Besonderheit, eine mittelalterliche Synagoge, die von den Grundmauern bis zum Dach aus dem Mittelalter – in ihren ältesten Teilen sogar aus dem 11. Jahrhundert – stammt und komplett erhalten ist, trotz des Umbaus zum Speicher. „Das gibt es so nirgendwo anders und es ist absolut richtig, dafür das Weltkulturerbe zu beantragen“, sagt sie.
Auch der Kleinen Synagoge statten wir einen Besuch ab, sie wurde in den 1840er-Jahren errichtet. Der Zeit, in der sich vermehrt wieder jüdische Bürger in Deutschland ansiedeln durften. Nur 44 Jahre diente sie als Gebetshaus, dann war sie zu klein. Sie wurde zeremoniell entweiht, Zwischendecken wurden eingezogen. Die Jüdische Gemeinde zog in die neu gebaute Große Synagoge am heutigen Juri-Gagarin-Ring und verkaufte die Kleine Synagoge an einen Kaufmann, der sie als Lager und Produktionsstätte nutzte. Zuvor aber wurde das Gebetshaus zeremoniell entweiht. Später wurden hier Zwischendecken eingezogen. Bis in die 1980er-Jahre hinein gab es hier Wohnungen. Das Besondere: Der Thoraschrein ist hinter Tapete und Holz noch erhalten. „Das ist schon erstaunlich. Zur Geraseite hin ist der Erker noch zu erkennen“, sagt sie. Heute ist sie eine Begegnungsstätte. Hier kann man nicht nur viel über das jüdische Brauchtum, den Alltag der Menschen erfahren. Es finden auch Lesungen, Vorträge und Konzerte statt – mit dem Ziel, Berührungsängste zwischen Juden und Nichtjuden abzubauen und die Begegnung zwischen den Religionsgruppen zu fördern.

Den Abschluss macht das Steinerne Haus aus dem 13. Jahrhundert. Hier treffen wir Kunsthistorikerin Dr. Maria Stürzebecher, die uns mit in den Keller nimmt. Über 100 alte jüdische Grabsteine und Fragmente des frühen 13. bis frühen 15. Jahrhunderts sind hier aufgestellt. Manche Inschriften sind kaum noch lesbar, andere sehen aus, als hätten die Steinmetze ihre Arbeit erst gestern beendet.

„Sie waren im ganzen Stadtgebiet in alten Mauern und Kellern verbaut“, sagt sie und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen Stein. „Das ist der Spannendste. Ich dachte damals, jetzt haben wir endlich unseren Rabbiner-Grabstein, der hat so viel Text. Aber nein, es war der Leichenstein für eine Frau, die liebenswerte, ehrbare Frau Hannah. Und auch der Ehemann kommt zu Wort. Er spricht sie als sein Hannele direkt an, das ist nicht nur anrührend, sondern zutiefst ungewöhnlich“, sagt sie, denn einen solchen Grabstein hat man bisher noch nicht gefunden, weder in Erfurt noch anderswo.


Reise durch die Zeit
Viele Stadtführungen bietet die Erfurt Tourismus und Marketing GmbH an, die auch für Erfurter interessant sind. Und auch zum jüdischen Leben in Erfurt gibt es Angebote.
Wie wäre es mit dem „Romantischen Abendspaziergang“? Ein gemütlicher Rundgang mit einem Erfurter Original durch Altstadt, Universitätsviertel und „Klein Venedig“ oder eine Führung rund um die Spuren jüdischer Geschichte. Auch das „Erfurter Tratschweib“ lohnt sich, denn es kann keine Geheimnisse bewahren. „Unterwegs mit dem Erfurter Weinmönch“ heißt die Tour durch Erfurts Weingeschichte vom Mittelalter bis heute. Sehr beliebt ist auch die „Erfurt-Tour mit der Straßenbahn“. Mit der historischen Stadtbahn geht es zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der jüngeren und älteren Erfurter Stadtgeschichte. Informationen zur Buchung gibt es im Internet bei der Erfurter Tourismus und Marketing GmbH.
Fotos Steve Bauerschmidt