Es war Liebe auf den ersten Blick – zumindest für Dirk und Marlén Wiedenstritt. „Wie in Südfrankreich, einfach traumhaft“, war der erste Gedanke der beiden Landschaftsarchitekten, als sie das große ApfelGut am Rande des Erfurter Steigerwaldes zum ersten Mal sahen. Ein kleines verstecktes Paradies, unweit der Fuchsfarm.
Wer durch die Pforte geht, hat unweigerlich das Gefühl, durch ein Zeitentor zu treten. Oder ist der geheime Garten vielleicht das grüne Kleinod der alten Zauberin, das es der Mutter von Rapunzel einst so angetan hat?

Die Zeit scheint hier stillzustehen. Vergessen sind Stadt und Alltagseinerlei, Ärger und Stress. Alles fällt von einem ab. Das geht auch Marlén und Dirk Wiedenstritt nicht anders. Jede freie Minute sind sie hier oben. Oft sind auch Freunde ihrer drei Kinder mit dabei. Vor fünf Jahren haben die beiden das ApfelGut am Steiger gekauft, als Ruheoase, Ausgleich zum Alltag. Und tatsächlich ist hier alles ursprünglich und ganz natürlich. Die Kinder streifen durch die Wiesen, schaukeln, spielen Verstecken oder liegen in der Hängematte.

Manchmal muss auch eine alte Milchkanne aus Aluminium als Fußballtor herhalten. Da sind Elise, Peter und Johan erfinderisch. Fast sieben Hektar ist das Gelände groß. Hunderte von Apfelbäumen stehen hier. 48 verschiedene Apfelsorten und 15 andere Obstbäume, darunter Kirschen, aber auch

Pflaumen, Birnen und Quitten sind dokumentiert. Doch erst die Hälfte der Bäume ist kartiert. „Wir gehen davon aus, dass wir hier über 60 Apfelsorten haben“, sagt Dirk Wiedenstritt. Da haben die Pomologen, die Apfelexperten, noch ordentlich Arbeit vor sich.
Schier grenzenlos ist die geschmackliche Vielfalt der Herbstfrüchte im ApfelGut. Von süß bis saftig, sauer bis aromatisch. Manche haben rote Backen, andere sind goldgelb, grün oder knalligrot. Klangvoll lesen sich die Namen auf der Kartierung: Malus domestica „Auralia“ zum Beispiel, eine Kreuzung aus Cox Orangenrenette und Schöner aus Nordhausen, die 1935 domestiziert wurde und seit den 1960er-Jahren im Handel ist. Hinter jeder Sorte verbergen sich ganze Geschichten. Je tiefer man eintaucht, umso spannender wird es.
Aber auch Köstliche aus Charum und Goldrenette lassen Geschmacksexplosionen vermuten. Letztere stammt aus dem England des 18. Jahrhunderts und ist auch Marléns Lieblingssorte. Besonders stolz ist sie aber auf den Friedberger Bohnapfel, eine sehr seltene Sorte, die nur noch in wenigen Gärten wächst.
Einige Sorten entfalten ihr volles Aroma erst nach längerer Lagerung, andere schmecken am besten frisch vom Baum. Wieder andere eignen sich perfekt für einen klassischen Apfelkuchen oder geben herrlichen Apfelmost. Die Äpfel, die hier wachsen, gehen im Stück oder als Most an Erfurts Bioläden. Denn die Wiesen des ApfelGutes sind biozertifiziert.

Doch es sind nicht nur die vielen Geschmacksrichtungen, von denen die Wiedenstritts begeistert sind. „Ein weiterer Vorteil alter Sorten ist, dass sie für Allergiker häufig verträglicher sind“, sagt Marlén Wiedenstritt. Gern öffnen sie ihren Garten für andere, zeigen die Vielfalt alter Apfelsorten. „Wie die Kinder staunen, wenn sie die verschiedenen Früchte kosten und feststellen, dass jede Sorte etwas ganz Besonderes ist. Die meisten kennen ja nur die klassischen Äpfel aus dem Supermarkt und bei uns ist halt jeder einzigartig“, sagt Marlèn.

Viele Lieblingsplätze haben die Wiedenstritts in ihrer Oase. Hier steht ein Tisch, dort eine Sitzgruppe, die zu verschiedenen Tageszeiten in unterschiedliches Licht getaucht sind. Im Sommer bleiben sie gern oben, im alten Bauernhaus. Es stammt aus den 1930er-Jahren. An heißen Tagen kann man es hier gut aushalten. Die Räume sind weiß gekalkt, die Dielen aus Holz. Im Wohnzimmer steht ein großer alter Kachelofen. Wie im Museum sieht es hier aus, als wäre die Zeit stehengeblieben.
Nur wirkt alles sehr viel persönlicher. Das ist Absicht! Denn Dirk und Marlén Wiedenstritt wollen alles in ihrer Ursprünglichkeit erhalten, schonend restaurieren. Das kostet Zeit und Kraft, so ganz nebenbei. „Allein hätten wir das nie geschafft. Ohne die Unterstützung von Martin Gobsch, Pächter des liebevoll umgebauten ‚Hühnerstalls‘, Alexander Seyboth, Björn Burmeister und Stefan Faidt, unseren Pächtern der äußeren Streuobstwiese, könnten wir die viele Arbeit in der Freizeit kaum bewältigen“, sagt Marlén und vergisst dabei auch Imker Oliver Schröder mit seinen 50 Bienenvölkern und Christian Weckert mit seinen 30 Schafen nicht. Auch Kater Karlo, den sie mit der Flasche großgezogen hat, ist eine große Hilfe: als Mäusejäger.



Die Scheune haben sie selbst renoviert. Nichts erinnert mehr daran, dass hier mal ein Pferdestall war. „Uns war wichtig, Materialien aus der Gegend zu verwenden und so sanft wie möglich zu sanieren, um den Charakter des Bauernhofes zu erhalten“, sagt Dirk Wiedenstritt. Viele Baustoffe, auch die Hölzer, haben sie von Abbruchgrundstücken geholt. Das Alter der Ziegel auf der Scheune zum Beispiel – gute alte Biberschwänze – wird auf über 300 Jahre geschätzt.
Im ApfelGut gibt es nicht mal einen Hauch von Moderne, alles wirkt ursprünglich, ist aber in einem sehr guten Zustand. Ein bisschen ist es wie auf einem Bauernhof vor 80 Jahren. Und das war das Apfel-Gut einst wirklich. Schafe, Ziegen, Hühner wurden hier gehalten, die Äpfel verwertet.
Aus dem Familienidyll der Wiedenstritts ist inzwischen ein Geheimtipp geworden. Gute Freunde feiern hier ihre Geburtstage oder auch ihre Hochzeit. Perspektivisch möchten sie die Scheune für Seminare und Workshops anbieten. Führungen für Kinder und Erwachsene, Schnitttechniken für Bäume von Streuobstwiesen, Naturerlebnispädagogik, aber auch Yogakurse, Qi-Gong unterm Apfelbaum, alles ist möglich. Schon jetzt finden unter dem Vordach der alten Scheune Skulpturenworkshops statt, eine Idee von Diana Hartung, Künstlerin und gute Freundin von Marlén.
Auch Ausstellungen kann sie sich gut vorstellen. Die Scheune ist dafür perfekt geeignet. Die Wände strahlen weiß. Auf dem Boden liegen uralte Ziegel, natürlich neu verlegt. Und vielleicht gibt es in der Zukunft auch einen kleinen Hofladen mit Produkten von der Wiese. „Ein Traum wäre Bauernbrot nach alter Rezeptur, aber dafür brauchen wir noch einen Holzbackofen“, sagt Marlén. Ideen hat die 36-Jährige viele, nur die Zeit ist knapp. Sogar einen Comic rund um den kleinen Eichelhäher Garru auf der Streuobstwiese hat sie gemeinsam mit einem Freund entwickelt.

Und so geht es Schritt für Schritt immer ein Stückchen weiter, um sich den Traum von mehr Naturverbundenheit zu erfüllen. „Das Schöne ist, dass man hier im ApfelGut sehen kann, wie sich der Apfelanbau im Laufe der Zeit verändert hat. Wir haben Bäume aus den verschiedensten Phasen. Das wollen wir gern zeigen und das Bewusstsein für diesen selten gewordenen Typ eines Biotops stärken“, sagt Dirk Wiedenstritt, der seit 16 Jahren den „Tag der offenen Gärten“ in Erfurt organisiert. Und ganz sicher wird er auch diesen geheimen Garten im nächsten Jahr wieder öffnen.
Was kaum einer weiß: Marlén Wiedenstritt kennt sich auch super mit Heilkräutern aus. Sie ist sowas wie die Kräuterexpertin unter den Erfurter Stadtführerinnen. Unter anderem führt sie während der BUGA 2021 auch durch den Erfurter Festungsgraben. Dort präsentieren sich auf 3.400 Quadratmetern nicht nur alte, längst vergessene Gemüsesorten, sondern auch Kräuter aller Facetten dicht an dicht.
Mehr Informationen unter www.apfelgut-erfurt.de
Text: Anke Roeder-Eckert
Fotos: Steve Bauerschmidt